Die Inhalte auf einen Blick [Ausblenden]
- Aller Anfang liegt im Bier
- „Heute back’ ich, morgen brau’ ich!“
- Bier und seine ‚Mystik’
- Bier ist ein wesentlicher Bestandteil der Kultur
- Sag’s mit Bier: Sag’ ‚Prost’ und ‚Danke’!
- Bier schenkt doppelte Freude
- „Danke dir, du gutes Bier!“
- „Bier ist das Beste!“, meint G. K. Chesterton
- Bier sprudelt aus Hähnen, Fässern, Tassen, Halmen, Krügen, Gläsern, Schalen, Steinen, Stiefeln…
- Und wer ‚braut’ das Bier?
- Gilgamesch, die Frauen und das Bier
- Und wer ‚bezahlt’ das Bier?
- Geld ist nur ein' mögliches Schema'
- Babylonisches Management
- Bargeldlose Schecks in Ton
- Bier-Rationen schulen die Ratio
- Bier hilft beim Rechnen
- Bier lehrt Schreiben
- Haftnotizen, gerne auch in Keilschrift
- Spendenschecks, ausgestellt in Bier
- Ende Gelände! Einmal ist Zahltag!
- Frau Wirtin, ihre ‚Kratzer’ und ihr ‚Stein im Brett’
- Frau Wirtin hat ihren eigenen ‚Stil’
- ‚Prost Kushim!’- Der ‚Bierkreislauf’ schließt sich
- Die fünfte Säule Babylons:‚…und erlasse uns unsere Schulden!’
- Fette Jahre, magere Jahre
- Der Königsweg ist das Königsrecht
- Bürgerinnen und Bürger – frei von Ketten und Schulden
- Kein Vorbei am ‚Babylon-Block’
- Am Ende des Bieres
- Bier vor Brot
- Brot in der Flasche
- B wie Babylon, Z wie Zukunft
- Literatur
- Anmerkungen
- Links
Aller Anfang liegt im Bier
„Das Bier schafft uns Genuss, die Bücher nur Verdruss.“ Der Spruch ist bekannt. Er stammt von Goethe. Bier gilt ihm vor allem als Genussmittel. Allerdings verdient das Thema Bier – ohne den Dichterfürsten deswegen herabsetzen zu wollen –, eine gründlichere Betrachtung. Schließlich hat Bier über Jahrtausende hin zu mehr gedient als zu bloßem „Lehnstuhlbehagen“, wie etwa der ‚andere’ Dichterfürst, Thomas Mann, meint. Gegen das berühmte ‚Gläschen’ will also nichts gesagt sein. Immerhin verhilft es nach vollbrachtem Tagwerk zu einem geruhsamen „Oh, wie wohl ist mir am Abend“. Nur sollte nicht vergessen sein: Bier hat zu Beginn der Zivilisation – von Sumer bis Ägypten – eine immense kulturstiftende Rolle innegehabt, wie sie heute kaum vorstellbar erscheint. Bier war, wie Christian Rätsch – ein Kenner dieser flüssigen Materie – dazu festhält: „Nahrung, Trank und Sakrament zugleich“.1
„Heute back’ ich, morgen brau’ ich!“
Doch immer geschieht das Brauen nach dem gleichem Grundrezept. Es gilt, die Körner anzukeimen und diesen Prozess des ‚Maischens’ durch ‚Darre’, d.h. durch Trocknen oder Erhitzen rechtzeitig wieder zu stoppen. Danach gelangt das entstandene grüne oder geröstete ‚Malz’ in die ‚Poche’, um es aufzubrechen (durch Zerquetschen, Stampfen oder Mahlen) und die so gewonnene ‚Bierwürze’ nochmals einzuweichen, durchzukneten, abzuseihen und mit Wasser aufzugießen. Danach darf die Masse ruhen und in Gärung übergehen…. Geschickt legen die Babylonier meist noch einen Zwischenschritt ein und backen ‚Bierbrote’, genannt ‚Bippar’. Sie verbleiben im ‚halbgaren’ Zustand, sind also nicht zum Verzehr gedacht, sondern dienen stattdessen als Vorratslager, um sie bei Bedarf wieder einzuweichen und daraus im Handumdrehen frisches Bier, genannt ‚Kasch’, zu zaubern. Ein einfaches und geniales Verfahren! Noch bis ins Mittelalter hinein, bis hin zum Rumpelstilzchen aus dem Märchen, wird das die Reihenfolge bleiben: nach dem Back-Tag der Brau-Tag. (‚Warum bei saurem Brot darben’, wird sich das Koboldchen gesagt haben, ‚wenn sich daraus auch süffiges Bier zaubern lässt?!’).
Bier und seine ‚Mystik’
Das jeweilige Brau-Ergebnis darf dann der Gesundheit und dem allgemeinen Wohlbefinden zugute kommen. Zumal im Schwemmland zwischen Euphrat und Tigris, wo derart Mangel an reinem Quellwasser herrscht, dass es über Kanäle und Aquädukte herangeführt werden muss, gewinnt ein hygienisch einwandfreies Getränk wie Bier eine zusätzliche Bedeutung. Weniger Wasser als Bier dient daher dem Zweistromland als Getränk und Nahrung. Zugleich taugt es als medizinische Grundsubstanz. Es gibt ein prima Lösungsmittel ab für Kräuterextrakte aller Art und ein wirksames Desinfektionsmittel zur Wundversorgung.
Und weil Bier ein ‚flüssiges’ Medium ist, eignet es sich auch bestens zum Shaken, Mixen, Mischen. Über diverse Kräuterpacks, sog. ‚Gruts’ und halluzinogene Bei-Mischungen, lässt sich das physische Medium nach Belieben ‚anreichern’ und zum meta-physischen Medium erweitern. Als solches kann es den Zugang zur unsichtbaren Welt der Götter erleichtern. Bier dient demnach als ‚Nährmedium’ ebenso so gut wie als ‚Genussmedium’ und bisweilen auch als ‚Trägermedium’, um das das rituelle Hin und Her zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt zu befördern. Auf diese Weise steuert zuletzt auch das ‚Rausch-Moment’ seinen Teil dazu bei, den Geistesfunken, die besondere „Glut“2, die das Menschsein ausmacht, von Tag zu Tag neu zu entfachen und als freie Gabe an nächste Generationen weiterzureichen.
Nicht von ungefähr heißt es: Bier ist eine Göttergabe! Eine mystische Angelegenheit! Denn dass sich die ‚Bierwerdung’ weniger Göttern verdankt, als winzigen Mikroorganismen, das bleibt für lange Zeit unbekannt. Erst Jahrtausende später wird Louis Pasteur (1822 – 1895) unterm Mikroskop herausbringen: ‚Hefebakterien’ sind’s, die die magische Wandlung von hartem Korn in flüssiges Gold bewirken! Und selbst dann noch hat Pasteur sein halbes Leben darauf verwenden müssen, bis ihm ‚geglaubt’ worden ist.
Ein göttliches Gesöff bleibt Bier trotzdem. Auch Hefebakterien gegenüber – „Gott ist nichts zu klein!“ – darf man dankbar sein. Ansonsten ist auch weiterhin ein gut Teil ‚Mystik’ im Spiel, wenn am Ende ‚gutes’ Bier munden soll. Erstaunlicherweise hat sich über die Zeiten hin das ‚Geheimnis des Bierbrauens’ auch nie verloren! Nie ist es ins Vergessen gerutscht. Denn während Wein aus vergorenen Früchten auf natürliche Weise, spontan entstehen kann – und dann Tiere von weither anlockt, die sich daran laben –, kommt es zum Endprodukt Bier nur über einen mehrstufigen, bewusst eingeleiteten Prozess. Bier ist als solches kein Naturphänomen! Wo regelmäßig Bier getrunken wird, da ist zuvor immer eine hochgradig organisierte, äußerst komplexe Kulturleistung erbracht worden!
Bier ist ein wesentlicher Bestandteil der Kultur
Bier zu brauen, verlangt das penible Einhalten einer Folge von Arbeitsschritten. Bis zu dreißig Stationen oft sind es, die fürs Brauen mancher Sorten zu absolvieren sind. Es will ‚kultiviert’ werden. So wie der ‚Sauerteig’ fürs Brot ‚geführt’ werden will, soll er nicht verderben. Stets gilt es, von Tag zu Tag einen ‚Ansatz’ vorzuhalten. Ähnlich wie beim Herdfeuer. Augenblicklich erlischt es, bleibt nicht stets ein Rest an ‚Glut’ erhalten! Auf solche ‚glühende Kontinuität’ hin ist alles kulturelle Wissen angelegt. Und die Völker der Bronzezeit bauen darauf. Auf Gedeih und Verderb, so ist ihnen bewusst, hängt ihr Überleben an der fortlaufenden ‚Heiligung’ bestbewährter Traditionen.
Kulturvölker heißen sie zu Recht! Insbesondere die Babylonier tun sich hervor, indem sie besonderen Wert auf Komfort und Individualität legen. Dem Genuss sind sie nicht abgeneigt. Sie besitzen persönliche Visitenkarten (‘Rollsiegel’) und tragen bedeutungsvolle Amulette. Der Webstuhl, das Rad und die Töpferscheibe sind ihnen vertraut. Auch die Produktion erlesener Baumaterialien wie z.B. farbig glasierter Ziegelsteine. glasierter Ziegelsteine. Sie spielen Musik auf einer Vielzahl von Instrumenten. Fürsorglich gehen sie mit ihren Pflegebedürftigen um. Ihren Kindern stellen sie reizende Nachziehspielzeuge bereit. Sie unterhalten prächtige Parks und Gärten, betreuen aber auch ein weit gespanntes Handelsnetz, über das sie z.B. Lapislazuli-Steine aus 2.500 km Entfernung einführen. So wie sie generell alles, was der Region fehlt – und das sind sowohl Metalle als auch Stein und Holz – importieren.
Besonders in einer Sache stimmen die Völker derart wundersam überein, als hätten sie sich insgeheim abgesprochen. Das gilt so für die Aryas (die ‚Arier’, über die relativ wenig bekannt ist), für die Kelten, Germanen, Wikinger, Sumerer, Hethiter, Babylonier, Ägypter und wie sie alle heißen. Denn wann immer sie Dank sagen, Wünsche äußern, Gebete sprechen oder Verträge und Versprechen eingehen, üben sie einheitlich den Brauch, die erhobenen ‚Worte’ jeweils mit einem rituellen ‚Trankopfer’ zu begleiten. Real besteht das meist aus einer ‚Bier-Spende’. Diese ist ihr Dankesgruß an die Adresse der unsichtbaren Helfer und verborgen bleibenden Quellen des Lebens – gemäß den ‚Götternamen’, die sie dafür gefunden haben.
Sag’s mit Bier: Sag’ ‚Prost’ und ‚Danke’!
Die Trinksprüche dazu , das gegenseitige ‚Prost auf die Gesundheit’ und der ‚Toast auf die Götter’, sie geschehen meist im selben Atemzug. Offenbar scheint die Verbindung zwischen dem Heute und der Zukunft generell so schwach ausgebildet zu sein, die Brücke zwischen dem diesseitig Machbaren und dem jenseitig Unverfügbaren scheint so brüchig, dass sie in immer neuen Anläufen rituell erneuert sein will. Nach dem Verständnis der Bronzezeitler geschieht das am besten durch ein Ritual wie dem der täglichen ‚Libation’. Darunter verstehen sie jenen ‚einen’ Schluck am Tag, der ausdrücklich nicht gedankenlos runtergekippt sein, sondern der ‚bewusst’ vergeudet, d.h. ausgeschenkt und gespendet sein will.
Dafür schaffen sie eine eigene Pause am Tag, in der sie mit dem Konsum für eine kurze Weile demonstrativ auszusetzen! Den einen Schluck schütten sie ‚weg’, um ihn jener schöpferischen Kraft zu widmen, die sie ‚Nin-gur-su’ nennen, die sie ‚Nin-gur-su’ nennen, „die das Getreide wachsen lässt“. Sie kann auch Namen tragen wie ‚Nin-ur-ta’, „die die Ähren erhält“, ‚Nidaba’, „die das göttliche Bier braut“ oder ‚Sikudu’, die zum “Biergenuss” verhilft. Weder vergessen sie dabei ihre jeweiligen ‚Stadtgöttinnen’ noch die große ‚Schutzgöttin’, auf deren Beistand sie bauen – wie z.B. ‚Inanna’ (später ‚Ishtar’), oder ‚Ninkasa’ in Mesopotamien bzw. ‚Hathor’ oder ‚Tenenet’ in Ägypten.
Mesopotamische ‚Weihplatten’– kenntlich an ihrer mittigen Durchbohrung – dienten zur Anbringung an den Innenwänden der Tempel. In ihrer Funktion sind sie zeitgenössischen Spendenschecks vergleichbar. Sie gingen auf Großspender zurück und enthalten jeweils Inschriften mit Angabe von Aussteller, Empfänger und Verwendungszweck. Das alte Mesopotamien kennt eine Vielzahl solcher Widmungs- oder Votivobjekte. Sie besitzen allesamt Spendencharakter. Die hier abgebildeten Szenen verweisen auf das Ritual täglicher(!) Spenden an die Tempel – sei es in Form von ‚Libationen’, d.h. Trankopfern (im oberen Register) oder von ‘Nahrungsspenden’ bzw. Opfertieren (im unteren).
Bier schenkt doppelte Freude
Mit ihrem Trinkritual geht es diesen Völkern stets darum, jenen unsichtbaren Bereich zu umgrenzen, von dem sie spüren, dass er es ist, der ihr Leben auf unbegreifliche Weise trägt und erhält. Im Trankopfer finden sie die angenehme und elegante Weise, die Erinnerung an das eminente Faktum, dass das Leben ein ‚Geschenk’ ist, wach zu halten. Wann immer sie in diesem Sinne Bier spenden und somit das Kultur-Geheimnis des Brauens weitergeben, ist es Dankbarkeit, von der sie erfüllt sind. Ihr Dasein, so ist ihnen bewusst, ist ihnen ‚unverdient’ zugefallen. Gratis! Und die Freude verdoppelt sich sogar, im Maß wie sie alles ‚Empfangene’ wieder zur Quelle des Lebens zurückfließen lassen. Was liegt demnach näher, als diese bewusstseinserhellende, flüssige Gabe – es liegen keine Patentgebühren darauf! – dankbar anzunehmen und zu feiern! Tagtäglich! Durch ausgiebige Spendenpraxis! Wie z.B. durch das ‚Aus-Geben’ von Bier-‚Runden’.
Durchaus vor diesem Hintergrund sind die legendären Bankette, die üppigen Feste und Feiern der Babylonier, zu sehen. Zwölf Tage z.B. dauert allein ihr Neujahrsfest. Die Angaben zu Art und Umfang solcher Feste mögen kaum glaubhaft klingen, sind aber gut bezeugt. Ähnlich wie auch die Feste des biblischen Salomo oder der Köngin von Saba, von denen es heißt, die Zahl der Teilnehmer sei in die Zehntausende gegangen. Archäologisch belegt etwa ist die Tatsache, dass allein Aššur-nâṣir-apli II. (Ashurnasirpal II.) zur Einweihung seines Palastes in der Hauptstadt Nimrud (oder Kalhu) rund 70.000 geladene Gäste empfängt und sie über 10 Tage hin bewirtet! Mit 10.000 Fässern Bier!
„Danke dir, du gutes Bier!“
Wo anders denn auch sollte sich das Spenden lernen lassen als im geselligen Miteinander? In der Atmosphäre entspannter Konvivialität? Wie bei Festen und Bier-Kränzchen?! Denn sowenig wie das Bier, ist auch die Pflege der Gastfreundschaft eine Naturtatsache. Auch das Spenden und Schenken, wie alles Kostbare und Verletzliche, fängt einmal ‚klein’ an – mit ‚Toasts’, die ausgesprochen und mit ‚Runden’, die spendiert werden.
Eben auch das Spenden ist angewiesen auf passende Gelegenheiten. Auf Events, bei denen es ‚geübt’ werden kann. So oft, so lange und so gerne, bis es zuletzt so freudig und spontan aus dem Herzen fließen kann, wie es den beiden Vorbildern fürs Spenden, die dieser Blog vorstellt, zur Charaktereigenschaft gediehen ist: Zum einen Journalist G.K. ‚das Dickerchen’ Chesterton, zum anderen Guerillero und Uruguays EX-Staatspräsident José ‚der Erdklumpen’ Mujica. So freimütig spenden sie, als führten sie jeweils einen eigenen Zapfhahn mit sich. Doch den kennt nicht einmal das Märchen. Nein, was die beiden genannten, großherzigen Spender eint, was sie so gebefreudig macht, ist nichts als der Ausfluss der “Mutter aller Tugenden” (Cicero): Es ist das Gefühl der „Dankbarkeit“, das sie nie verlässt. Für beide gleichermaßen ist daher die eine Frage „bestimmend“ geworden, wie Chesterton sie zuspitzt:
„ob wir die Dinge im Leben als ‚selbstverständlich’ ansehen
oder sie mit ‚Dankbarkeit’ annehmen?!“3
Noch kürzer, aber im gleichen Sinn, bringt der dichtende Farmer Wendell Berry auf den Punkt:
“Wir leben das ‚gegebene’ Leben und nicht das ‚geplante’!” 4
Denn recht eigentlich ist mit jedem kleinen ‚Danke!’ immer auch ein kleines ‚Gebet’ gesprochen. Und diese winzige Dankes-Geste ist es, die – wird sie so sorgsam gepflegt wie das Trankopfer mit Bier –, schließlich zu anhaltender ‚Spendenfreude’ heranreifen und in ausdrückliche ‚Dank-Sagung’ münden wird! Sogar ausgesprochene Dankes–Feiern können daraus entspringen, in denen sich dann gewöhnlich alle Teilnehmer um ein bestimmtes Getränk scharen werden….
„Bier ist das Beste!“, meint G. K. Chesterton
Es muss nach dem Gesagten nicht weiter verwundern, wenn Chesterton im Brustton der Überzeugung immer wieder trompetet: „Beer is best“! 5 Und dass sein Stammplatz nur zu finden sein kann. im ‚Pub’. Hier, im ‚Public House’, in der nächstgelegenen Eckkneipe, sitzt der humorvolle englische Journalist am liebsten. Und schreibt er am liebsten. Mitten im Londoner Trubel. Mitten unter den Leuten. Dort eben, wo das Bier so kontinuierlich fließen darf, als fiele es mit dem Lebensstrom in eins.
Beinahe unvermeidlich ist es, dass Chesterton mit seiner Bierseligkeit Satiren auf sich zieht. Aber weil er über Humor verfügt, ist er darüber nicht etwa verstimmt, sondern gibt sie im eigenen Blatt ‚G.K.’s Weekly’ auch gleich selber heraus. Wie z.B. die von G. Walter Stonier verfasste, die die Behauptung aufstellt, dass Babys, wenn sie nach Herzenslaune schreien, letztlich „nach Bier schreien“. Und wenn sie träumen, “von Bier träumen; ja mehr noch, dass sie von nichts anderem träumen.” Sie träumen vom „Bier-Paradies“: Würden sie sonst so wonniglich zappeln und fröhlich brabbeln und hemmungslos blubbern? Sind Babys denn nicht wie magisch angezogen von allem, was so überschießend schäumt und spritzig sprudelt und verführerisch zischt und gluckst und gurgelt wie ein frisch gezapftes Bier?!
Kurz: „Es ist kein anderer Traum möglich als von Bier!“
Als eine ‚Schutzgöttin’ wird man Gilbert Keith Chesterton, den Zwei-Meter-Koloss, schwerlich ansehen können. Als Kinder mögenden Knuddelbär, als ‚Schutzheiligen fürs Bier’ dagegen schon! Schließlich weiß er um ein Geheimnis: “Kein Tier hat je etwas so Schlimmes wie die Trunkenheit entdeckt – oder etwas so Gutes wie das Trinken”. Und deswegen schreibt er konsequent an gegen jegliches blutleere, körperlose Verständnis der „Vernunft“, wonach ausgetrocknete „Ideen“, gleich welcher Art – die eigenen eingeschlossen –, „mehr wert sein könnten als ein Bier“.6
Bier sprudelt aus Hähnen, Fässern, Tassen, Halmen,
Krügen, Gläsern, Schalen, Steinen, Stiefeln…
Man könnte Chesterton leicht für einen notorischen Trinker halten. Doch dem ist nicht so. Niemand hat ihn je betrunken gesehen! Was ihn auszeichnet, ist eher sein ausgeprägter ‚Gemeinsinn’. Es ist der gleiche common sense, der es auch gewesen sein muss, der die alten Babylonier über Jahrtausende hin bei Laune gehalten hat. In Chesterton erlebt er sozusagen eine Wiederauferstehung. Denn nicht viel anders als der Journalist in seinem ‚Pub’, sehen es die frühen Kulturen als das königlichste Verhalten an, Gäste zu bewirten und mit ihnen – alle Schichten übergreifend – aus dem gleichen Krug zu trinken. Das Leben wird darüber zur Feier! Nicht anders sieht die Praxis in ihren eigenen Häusern aus, wo alle Mitglieder, und auch die Kinder, genüsslich das Bier aus dem gleichen Gefäß schlürfen. Gewöhnlich tun sie das über große Trinkhalme, um so den Kontakt mit restlichen Spelzen, die meist noch darin trudeln, zu vermeiden.
Aus gleichem Grund sehen es die Babylonier auch besonders gern, wenn sich ihr königliches Paar, dem sie einräumen, der Stirnseite des allgemeinen Banketts vorzusitzen, fleißig am Trinkritual beteiligt. Besonders goutieren sie es, wenn das den Part übernimmt, Grußbotschaften an die göttlichen Spender des Gerstensaftes zu richten. Als königliches Benehmen gilt, sich beim großen Gastmahl des Lebens nicht zu überheben, sondern stellvertretend zu verbeugen, um den Göttern Dank abzustatten und gebührende Trankopfer, Libationen, darzubringen. Üblicherweise tritt das Königspaar sehr gerne in diese Funktion ein. Sogar eigene Opferschalen finden dafür Verwendung, die sog. ‚Phialen’. Gefüllt sind sie mit der köstlichsten Brühe, die sich für diese vornehme Aufgabe aufbieten lässt: mit Bier! Viele Bildmotive aus der Zeit stellen bevorzugt diese eine Schlüsselszene dar!
Und wer ‚braut’ das Bier?
Lange mussten die Assyriologen rätseln. Bekannt war ihnen nur, dass zu den historischen Tempeln und Palästen immer auch Bäckereien und Brauereien gehörten – meist unterm gleichen Dach. Handwerklich gesehen, liegen Brauen und Backen ja ohnehin nahe beieinander, weil Getreide nur in den drei Varianten ‚Bier, Brei oder gebackenes Brot’ genussfähig wird. Und bekanntlich ist auch beim Brotbacken alkoholische Gärung im Spiel. Nur eben, dass der Alkohol in der Ofenhitze im letzten Moment verfliegt – dafür aber die unwiderstehliche Duftspur von Frischgebackenem hinterlässt!
Dankenswerterweise erlauben neuerdings chemische Analysen7 der Rückstände in Tongefäßen der Zeit ein genaueres Bild des bronzezeitlichen Alltagslebens zu zeichnen. Der sog. ‚Bierstein’, der Absatz an Kalziumoxalat-Rückständen, der darin in der Regel darin zu finden ist, spricht eine eindeutige Sprache. Endlich erfährt hiermit das Rätsel um die rundlichen Vertiefungen in den Fußböden, die die Privathäuser der Epoche vor 5000 Jahren zurückgelassen haben, seine Auflösung. Die Gefäße im Fassungsvermögen bis zu 50 Litern, jeweils versehen mit einem unteren Abfluss, sie passen exakt in die Aussparungen am Boden. Anders gesagt: Die Löcher sind geeignet, die Kessel aufzunehmen, die Brau-Kits, die ‚Bierfässer’ der Babylonier. Und zugleich taugen sie als die ‚Kühlanlagen’ dafür!
Nicht weiter schwierig zu beantworten, ist damit auch die Frage: Wer eigentlich braut das Bier für den Hausgebrauch? Kurz gesagt, das Bier brauen Brauerinnen! Rings um die Zentralbauten, da werden sich die Geschlechter die Arbeit geteilt haben, wie auch das ‚Meketre’-Miniatur-Modell (vgl. Abb. S. 4) zeigt. In den Privathäusern dagegen werden die ‚Herrinnen im Haus’ auch das Bierbrauen besorgt haben. Und wie die aktuelle Forschungslage besagt, ist Brauen und Bewirten auch darüber hinaus vornehmlich Frauensache gewesen. Denn ‚Gastwirtin’ oder ‚Schenkin’ zu sein, das ist im babylonischen Umfeld ein anerkannter und hochgeschätzter Frauenberuf. Funde belegen: ‚Braubestecke’ haben zur üblichen Aussteuer bei Hochzeiten gehört. Und nicht selten sind einer frisch Vermählten auch geeignete Immobilien oder die Rechte zum Betrieb einer ‘Schenke’ bzw. ‚Schänke’ übertragen worden.8
Gilgamesch, die Frauen und das Bier
Indem das Brauhandwerk zu großen Teilen in der Hand von Frauen liegt, üben diese einen gewaltigen zivilisatorischen Einfluss aus. Die älteste überlieferte Menschheits-Story, das „Gilgamesch-Epos“, erzählt eben davon. Frauen sind in Mesopotamien voll geschäftsfähig. Sie verfügen über eigene Rechte, auch über das, sich selbst vor Gericht vertreten. So auch spricht die babylonische ‚Schöpfungsgeschichte’ der Frau und dem Bier eine Schlüsselrolle zu! Die Erzählung handelt von Uruks König Gilgamesch, der sich mit einer Art ‚Yeti’ anfreundet – mit dem wilden, letztlich aber sanften Naturburschen Enkidu. Doch Enkidu behagt das eingeengte Stadtleben nicht. Immer wieder büchst er aus. Erst einer Dienerin des Ishtar-Tempels gelingt es, Enkidu zu einem Schluck Bier zu animieren. „Trinke Bier, wie es im Land Brauch ist!“, verlockt sie ihn. Und tatsächlich: Enkidu lässt sich zu einem Bier überreden – und erfährt prompt eine erhebende Wirkung. „Frei und heiter“, so heißt es, „wurde sein Herz“. Woraufhin Enkidu alsbald „frohlockte und erstrahlte“!
Bier macht Enkidu zum Menschen! Für Babylonier steht fest: ‚Bier’ und ‚Zivilisation’ sind eins. Bier wandelt das Tier zum Menschen! Die Frage, aus welchem Stoff die Ursuppe des Lebens nur bestanden haben kann, gilt ihnen als beantwortet. Demnach mag die ‚humide’, biologische Hälfte der Gattung ‚Homo’ dem ‚Humus’ entstammen, sicher aber ist die andere, die ‚humane’, die ‚inspirierte’ Hälfte, wie mit der Kelle aus dem Fass ‚geschöpft’. Daher ‚Schöpfungs’-Geschichte! Denn ‚Zug um Zug’ ver-lernt Enkidu über dem Bier, wie es ihm nicht enden wollend gespendet wird, das animalische Herunterschlingen und er-lernt darüber das bedächtige Speisen, das konviviale Genießen. Bis hin, dass ihm darüber das Herz so voll wird, dass ihm der Mund übergehen will. Enkidu wandelt sich zum ‚Menschen’. Zum ‚ zōon politikon’. Zum ‚sprechenden Wesen’ – ‚zōon logon echon’!
Und wer ‚bezahlt’ das Bier?
„Wer kein Bier trinkt, das kann kein Mensch sein!“ – “Wer kein Bier kennt, der weiß nicht was gut ist!“, so lauten sumerische Sprichwörter. Oder: „Erst Bier macht ein Haus zu einem Haus.” Darf nunmehr also zusammenfassend gesagt sein ‚Bier gut, alles gut’?! Kann das Thema hiermit als abgeschlossen gelten? Nun, nicht ganz! Zumindest eine klitzekleine Frage bleibt noch zu klären: Wer bitte, zahlt am Ende die Rechnung? Und vor allem wie? Denn Münzgeld kennen die Babylonier gar nicht! Oder besser gesagt: Münzgeld benötigen sie überhaupt nicht!
Das umständliche Hantieren mit Hartgeld ersparen sie sich ganz! Keine Gefahr besteht für sie, Midas-Fantasien zu erliegen und einem Goldrausch zu verfallen. (Um einen Rausch zu erleben, dafür kennen sie ja angenehmere, ungefährlichere Mittel!) Nein, sie kommen gänzlich ohne Moneten aus. Für Jahrtausende. Offenbar geht’s auch anders. Ohne jene klobige Münz-Erfindung der Lyder (wie der Beitrag zum Babylonic Banking näher ausführt). Klugerweise überspringt Mesopotamien kurzerhand die Querelen und Abhängigkeiten, die mit der Heraufkunft der reinen Geldwirtschaft verbunden sein werden und geht gleich zur bargeldlosen Zahlung per Scheck über! Es schreibt Schecks in rauen Mengen – sowohl Zahlungsschecks wie Spendenschecks –, ausgeführt als Tablets in Smartphone-Größe, im Medium Ton. Sie liegen zu Hunderttausenden in den Museen der Welt vor!
Geld ist nur ‘ein’ mögliches Schema
Wobei Babylon ‚Geld’ durchaus bekannt ist. Als ‚eine’ mögliche Kategorie. Als Merkhilfe und Orientierungsmaßstab zum Einschätzen von Gütern. Denn die Güter sind ‚über den Daumen’ durchaus ‚ausgepreist’, festgehalten auf einer Anschlagstafel. Das Preis-Register schafft Übersicht und steuert Richtwerte für ein anwendbares ‚Schema’ bei. Denn das ist Geld in Babylon: ein Zähl- und Rechenschema! Ein flexibler Planungsrahmen fürs Projektmanagement. Ein zweckdienliches Verrechnungsmodell für den bargeldlosen Zahlungsverkehr per Scheck! Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die seltsame Verdrehung jedenfalls, wie sie im Dritten Jahrtausend nach Christus geschehen wird, wonach ein praktisches Hilfsmittel, ein bloßes Werkzeug, einmal selber zum obersten Zweck aufsteigen könnte, um eine abstrakte ‚Wertsphäre’ zu etablieren, eine derartig teuflische Verirrung mag sich im Dritten Jahrtausend vor Christus noch niemand vorstellen!
Notiert werden die Preise jeweils im Palast, wo die ‚Schreiber’ walten und Basisdaten sammeln. Hier pflegen sie das Preisregister und halten ihre Tabellenkalkulationen auf dem aktuellen Stand. Dazu schreiben sie auf Leder, aufs tönerne Tablet oder die hölzerne Wachstafel, die wiederbeschreibbare ‚tabula rasa’. Als Plan-Wirtschaft ist das Verfahren dennoch nicht einzustufen. Denn die Preise sind weder willkürlich festgesetzt noch zwingend verbindlich. Konjunkturunabhängig dienen sie als Orientierungsmarken zur langfristigen Planung. Sie erleichtern das Erstellen von Material-, Personal- und Zeitrahmen.
Babylonisches Management
Die Palastbeamten beherrschen ihr Geschäft: das Planungs- und Eventmanagement. Sie besitzen die Kompetenz, Jahrzehnte andauernde Bauprojekte zu betreuen und sie führen sie nach allem, was man weiß, auch jeweils zum erfolgreichen Abschluss. Sie organisieren Massenevents und berechnen z.B. den Bedarf an Bierrationen, der dazu anfällt, auf den Kopf genau! Die Preise mögen geringfügig schwanken, sie kennen aber keine Konjunkturzyklen! Sie unterliegen ja keinem ‚Wucher’!
Ansonsten, übers Jahr hin, wird landauf, landab fleißig gepflanzt und geerntet, gehandelt und verhandelt, so eben, wie das eine lebendige Wirtschaft auszeichnet. Und dass die babylonische Wirtschaft im besten Sinne als nachhaltig und zugleich resilient einzustufen ist, dass sie auf einer außerordentlich hohen Kulturstufe über eine irre lange Zeit hin in konvivialer Weise blüht und geradezu hyperbolische Überschüsse erzielt, daran kann nicht der geringste Zweifel bestehen! Die Indikatoren, wie sie heute die 17 UN-Ziele zugrunde legen, würde sie locker erfüllen. Und auch einem harten, präzisen Nachhaltigkeitsbegriff würde sie vollauf entsprechen.
Bargeldlose Schecks in Ton
Das Bezahlen, um endlich auch diesen Punkt aufzulösen, übernimmt selbstredend jeweils, wer ‚bestellt’ hat. Was auch sonst! Diese Regel gilt universell. Freilich dient als das Zahlungs-Mittel dazu – was als erstaunliche Tatsache zu vermerken bleibt! –, ein bargeld-loses: Es handelt sich um ‚Schecks’! Oder um genau zu sein: um geprüfte (ge-checkte), beleghafte Verrechnungsschecks, ausgeführt in Ton, die sogar den Maßstäben des modernen „fabelhaften Scheckgesetzes“ (ScheckG) genügen würden!
Noch heute ist ein riesiger Haufen solcher Babylon-Schecks zu besichtigen. Allein das Londoner British Museum beherbergt 130.000 Exponate! Und mindestens noch einmal so viele kursieren im Antiquitätenhandel. Ab 50 Euro aufwärts pro Stück ist man dabei. Es sind Schecks in Form von Clay Tablets, d.h. beschriebene Ton-Tafeln etwa in Smartphone-Größe, von denen etwa neun von zehn dem Inhalt nach Schecks darstellen. Zahlungsanweisungen also oder deren Bestätigungen: quittierte Schecks. Daneben finden sich auch Wirtschaftsverträge anderer Art. Aber das Gros der Keilschrifttafeln, das besteht aus Schecks!
Bier-Rationen schulen die Ratio
Die Währung, auf die die Schecks ausgestellt sind – was nach dem bisher Gesagten keine Überraschung mehr sein dürfte –, heißt natürlich ‚Bier’. Ganz offiziell so festgelegt auf Hammurabis Gesetzessäule. Oder genauer: Mal sind die Schecks auf Bier-Rationen ausgestellt, und mal auf Gersten-Rationen als dem Ausgangsstoff dafür. Die Mehrzahl bezieht sich auf Verbrauch oder Lieferung – mal von Bier, mal von Gerste. So weit, so übersichtlich. Wobei in jedem Fall – bayerisch gesprochen – ‚die Maß’ das Maß vorgibt. Die Landeswährung, als Rechen-, Zahlungs- und Gewichtseinheit, sie heißt freilich in diesem Fall nicht ‚Maß’, sondern ‚gur’. Die zugehörigen, für die Vertiefungen der Bier-Tische konisch zulaufenden, genormten Maßkrüge finden folglich reichlichen Einsatz. Wenn nicht zum Trinken, dann als Schöpfmaße zum Zählen und Bemessen von Gerste – ob in der festen oder der flüssigen Form..
Bier hilft beim Rechnen
Die ‚Bierologik’ der Babylonier‚ ihre ,Bieromanie’, geht sogar so weit, sie ist so allgegenwärtig, so allbestimmend, dass sogar die äußere Form der benutzten Recheninstrumente das Aussehen von Bierkrügen annimmt! Die ‚Tokens’, die Rechensteine, die ‚Schiebefiguren’ auf den Rechenbrettern, die Kontostandsanzeiger fürs Ein- und Ausbuchen beim Banking, sie ‚gleichen’ nicht nur Bierkrügen, nein, es sind ganz real handliche Bierkrüglein, wenn auch im Zentimeterformat.
Bier lehrt Schreiben
Und selbst noch die abstrakten Schrift- und Zahlzeichen der sog. Proto-Keilschrift sind bildlich Bierkrügen nachempfunden. Es ist demnach wirklich nicht zuviel gesagt: Babylonier_innen, wie sie gehen und stehen, fühlen nicht nur, sondern sie denken auch ‚in Bier’ und schreiben sogar ‚in Bier’! Die Zahlungen laufen über Bier. Ihre Ratio, lässt sich sagen, entstammt ihrer Rationierung in Bier. Die Schrift haben sie zu diesem Zweck erfunden! Nur in Ausnahmefällen dient sie dem Verfassen von Briefen oder von ‚Schöpfungs’-Geschichten wie der von Gilgamesch und Enkidu.
Haftnotizen, gerne auch in Keilschrift
Nicht also, wie man lange meinen mochte, zur Verewigung von ‚Gesetzen’ ist die Schrift entwickelt worden, sondern zum Zweck der ‚Bier-Buchhaltung’! Zur Aufstellung von Gesetzen bekanntlich reicht es aus, sie ein einziges Mal in Stein zu meißeln, oder besser noch, sie gleich ‚hinter die Ohren’ zu schreiben, wo sie besser haften. Dass Bier eine ernste Angelegenheit ist und dass auf „Bier-Panscherei“ die „Todesstrafe“(!) steht – wie auf Hammurabis Gesetzessäule (ca. 1800 v.Chr.) zu lesen ist –, dazu braucht es keine Merkhilfe! Für Fragestellungen, die sich täglich ändern, schon eher. Vor allem ist es für alle ‚Einleger’ in den allgemeinen Kornspeicher, ihre ‚Bank’, dienlich zu wissen, wie jeweils ihr aktueller Kontostand lautet und welche Ein- und Ausgänge zu verzeichnen sind. Besser, man ‚merkt’ sich zwischendurch den Stand der Dinge. Und sehr offensichtlich tragen die schnellen ‚Marker’, die ‚Keile’, die die ersten Schreiber zur Erstellung ihrer ‚Buchungsbelege’ anbringen, diesen flüchtigen Charakter von Notizen!
Spendenschecks, ausgestellt in Bier
Übrigens auch Spendenschecks – Tontafeln oder Tonkegel – schreiben die Babylonier oft und gerne. Sie widmen sie – zeremoniell, per ‚Libation’ – der ‚großen Göttin’, überreichen sie aber realiter den Tempeln. Diese wiederum – als ‘Logistikcenter’ oder Agenturen der Redistribution – leiten die Spenden weiter an die Hilfsbedürftigen, wie sie gewöhnlich im Umfeld von Tempeln untergebracht sind. Denn die Tempel, so darf man wissen, operieren neben ihrer kultischen Funktion auch als selbständige Wirtschaftseinheiten – wie ansonsten auch die Paläste. Während jedoch in den Palästen vorwiegend Beamte tätig sind, betreiben die Tempel eigene Werkstätten. Sie erfüllen so die Rolle umverteilender, sozialer Einrichtungen. Alleinstehenden, Witwen, Waisen, Behinderten, eröffnen sie sinnvolle Betätigungsfelder und bieten ihnen Unterkunft und Unterhalt. Und deswegen auch, so wissen die Spender, gelangen ihre an die Tempel gerichteten Gaben, auch sicher an die, die wirklich der Hilfe bedürfen!
Die Tempel üben somit eine mehrfache Funktion aus. ‚Hohe Häuser’ heißen sie nicht nur ihrer hohen symbolischen Bedeutung wegen. Als Schatzhäuser , Lagerhäuser, Naturaldepots, um nicht zu sagen ‚Getreide-Silos’ müssen sie hohe Türme sein! Immerhin ruhen in diesen ‚Banken’ zumeist auch jene Körner – Gerste und seltener auch Emmer –, aus denen auf ‚mystische’ Weise jener goldene Saft quillt, der die mesopotamischen Gesellschaften als Ganze so wundersam zusammengehalten hat!
Ende Gelände! Einmal ist Zahltag!
Auffällig ist, dass Babylon-Schecks selten ein Datum tragen. Denn dafür besteht gewöhnlich keine Notwendigkeit: Der Zahl-Termin steht schon im Voraus fest! Er muss im Regelfall nicht eigens angegeben werden. Dieser Zahlungsmodus – ‚einmal jährlich’ – ist auch heute noch in etlichen Gemeinschaften durchaus gang und gäbe. Die Regel lautet: ‚Gezahlt wird auf der Tenne’! Also im Herbst. Nach der Ernte. Auf dem ‚Dreschboden’, wo die Garben anlaufen und die Körner von den Spelzen getrennt werden. Wo sich also wirklich aus dem Vollen schöpfen lässt. Und wo sich angehäufte Zahlungsrückstände leicht begleichen lassen. Es ist der Höhepunkt im Jahr, wo alle, die gesät, geackert und geerntet haben, auch wirklich so liquide sind, um Ausgleich leisten und also zahlen zu können!
Muss man noch eigens ausführen, wie fließend sich der Übergang gestalten kann, der zu guter letzt den ‚Dreschboden’ regelmäßig in einen ‚Tanzboden’ verwandelt? Und wie sehr herbstliche ‚Erntedankfeste’ naturgemäß dazu neigen, in allgemeine ‚Bier-Feste’ überzugehen?!
Frau Wirtin, ihre ‚Kratzer’ und ihr ‚Stein im Brett’
An diesem Punkt im Jahr spätestens kommt auch Frau Wirtin wieder ins Spiel. Sie übernimmt einen unverzichtbaren Part im ‚Bierkreislauf’, d.h. im bargeldlosen Zahlungssystem der Babylonier. Ihr vor allem ist zu danken, wenn übers Jahr hin Kleingeld, ‚hartes’ Geld, gar nicht benötigt wird. Meist nicht einmal die so geniale bargeldlose Zahlung per Scheck! Genauso gut tun’s auch ein paar Kratzer! Denn die unübersehbaren Kratzspuren, mit denen Tonscherben oder Gefäße aus dem mesopotamischen Kulturkreis so oft übersät sind, und die den Archäologen Rätsel aufgegeben haben, sie stammen nicht etwa von den Tatzen wilder Raubtiere. Nein, in Babylon gehen keine Monster mit eisernen Krallen um! Viel eher entstammen die Schrammen der Hand derer, die an der ‚Bier-Theke’ stehen. Die den Zapfhahn halten. Und das sind Brauerinnen, Wirtinnen, ‚Schenkinnen’. Bei ihnen lassen Babylonier_innen ‚anschreiben’! Bei ihnen haben sie ‚Kredit’. Die Laufzeit: jeweils ein Jahr! – Einfacher, eleganter, genialer geht’s nicht!
Die Annahme, dass zu jedem Bier ein ‚Deckel’ gehört, auf dem ‚angestrichen’ wird, ist demnach so abwegig nicht. Sie trifft den Punkt. Mit jedem Bier wird ein Strich fällig, ein ‘digitaler’ Kratzer (lat. digitus = Finger). Wobei Trink-Untersetzer, sollten sie denn eingesetzt worden sein – Vlies und Filz kennen die Babylonier sehr wohl! –, dann ohnehin über die Zeit hin allesamt längst verrottet sind.
Frau Wirtin hat ihren eigenen ‚Stil’
Wenn Frau Wirtin ihre Fingernägel schonen wollte, wird sie freilich besser einen Stylus benutzt haben, einen Griffel. Denn auf ebensolche Stifte dürften die ‚stilistisch’ so primitiv erscheinenden ‚Einritzungen’ zurückgehen, wie sie auf den hinterlassenen irdenen Krügen bzw. deren Bruchstücken zu besichtigen sind. Die wilden Kratzer verweisen somit auf die Zählstriche von Frau Wirtin und zugleich auf die persönlichen Bierkrüge aus ‚Stein’-Gut, die sie für jeden ihrer Gäste auf ihrem ‚Brett’ stehen hatte. Je nach Anzahl der Markierungen eben, nach der in Babylon zur ‚Tenne’ jedem Gast seine Jahresrechnung überstellt worden ist, durften die zerkratzten Krüge ‚nach der Bezahlung’ – in diesem Fall nach der Überschreibung von Bier- oder Gersten-Rationen ‚per Scheck’ –, umweltfreundlich, ganz wie bei einem lauten Polterabend, unter freudigem Getöse ‚zu Bruch’ gehen!
‚Prost Kushim!’– Der ‚Bierkreislauf’ schließt sich
Weil die Regel ‚Gezahlt wird auf der Tenne!’ selbstverständlich auch für Frau Wirtin gilt, wird auch sie ihre Rechnungen termingerecht ‚beglichen’ haben. So wie es etwa ‚Kubaba’ getan hat, von der man weiß, dass sie eine reale Person gewesen ist. Auch für Kubaba also, die so erfolgreich gewirtschaftet hat, dass rund um ihr Gasthaus allmählich eine ganze Stadt entstanden ist – Kisch in der Nähe Babylons –, liegt jeweils irgendwo ein ‚Stein auf einem Brett’. Ein Zählstein befindet sich auf einem Rechenbrett im Palast. Ihm gegenüber hat sie eine geringfügige Palaststeuer abzuführen. Ein anderer liegt beim Tempel zur Führung ihres Kontos. Ihm gegenüber hat sie auch ihre größten Verbindlichkeiten. Sofern sie nicht selbst pflanzt und braut, wird sie bei den Groß-Brauereien, die den Tempelanlagen gewöhnlich direkt angegliedert sind, in der Kreide gestanden haben, Solche Zahlungen wird auch Kubaba dann jeweils ‚per Scheck’ vorgenommen haben. Und darüber hinaus wird sie sicher dem allgemeinen Brauch gefolgt sein, Spenden an den Tempel als der zentralen sozialen Einrichtung zu richten. Ihr Scheck wird in diesem Fall der „Spendenscheck der kleinen Leute“ gewesen sein, ein Widmungskegel aus Ton also, so wie ihn die Tempel zu Aufbewahrung angenommen haben – jeweils in Verbindung mit weiteren Sach- und Naturalspenden.
Oder umgekehrt, wenn Kubaba Lieferungen getätigt hat, wird sie ihren ‚Gehaltsscheck’ vom Tempel empfangen haben. Womit sich der Kreis der Zahlungen schließt. Die Ausgabe solcher ‚Pay Checks’ ist gut belegt, allein etwa durch die Auszahlungen, die ein gewisser ‚Kushim’ im Auftrag des Tempels der Inanna in Uruk um 3100 v.Chr.(!) vorgenommen hat. Weil er namentlich, mit persönlicher Unterschrift, auf 18 vorhandenen Tablets(!) auftaucht, kann Kushims Tätigkeit ziemlich genau rekonstruiert werden.10 Er hat mit seinen Schecks eine ‚dingfeste Spur’ gelegt. Deutlich genug, um zu sagen: Kushim, der Scheckzahler, ist nach heutigem Stand des Wissens das erste konkrete Individuum, das man unter seinem Rufnamen kennt. Kushim lässt sich – durch die Jahrtausende hindurch – anreden oder zumindest ‚grüßen’! Mit einem ‚Gut gemacht, Herr Brauereidirektor!’ – Oder mit einem ‚Danke für den Scheck!’ – ‚Ein Prost auf Kushim’!
Die fünfte Säule Babylons:
‚…und erlasse uns unsere Schulden!’
Die babylonische Bier-Wirtschaft mit ihrem bargeldlosen Zahlungsverkehr und ihrer umverteilenden Palast- und Tempelökonomie sollte hiermit hinreichend beschrieben sein.
Eine kurze Zusammenfassung der fünf Bereiche:
Die Aufgabe der ‚ersten Säule’, der Paläste, sie besteht darin, den großen Rahmen vorzugeben: zu buchen, zu lenken und zu koordinieren.
Die ‚zweite Säule’, die Tempel – als die bedeutungsvollen ‚hohen Horte’ des kostbaren Korn- bzw. Bierschatzes –, sie führen unter anderem auch Bankfunktionen aus. Sie liefern aus oder lagern ein, sie führen Buch über alle Ein- und Ausgänge und operieren dabei immer nahe bei den Menschen.
Spenden an den Tempel sind indirekte Spenden für das Gemeinwohl.
Übers Jahr hin – als ‚dritte Säule’ – übernehmen die ‚Schenkinnen’ den wesentlichen Bereich der Versorgung und verleihen gegebenenfalls simple Kleinkredite. Einfach, indem sie lassen ‚anschreiben’ lassen – per ‚Kratzer’. Der Ausgleich erfolgt jeweils ‚zur Tenne’. Wobei die bargeldlose Zahlungsweise – ob nun per ‚Scheck-Schreiben’, per An-‚Kreiden’ bzw. An-‚Schreiben’ – auf allen Ebenen möglich ist.
Zu ergänzen ist : Für Unternehmungen im Auftrag der Paläste, für den Außenhandel – die ‚vierte Säule’ –, passt sich Mesopotamien der Welt-Währung ‚Silber’ an. Und das meist konfliktfrei. Aber auch hierbei kommen Schecks zum Einsatz, sobald verlässliche Handelsbeziehungen etabliert sind und sich die Partner mit der bargeldlosen Zahlungsweise einverstanden erklärt haben.
In einem Punkt freilich – in Fragen der Gerechtigkeit! – unterscheidet sich die Wirtschaft Mesopotamiens fundamental von aller nachfolgenden Geschichte: Babylon kennt eine ‚fünfte Säule’. Es pflegt eine Einrichtung namens ‚Schuldenerlass’. Sie betrifft zwar nicht Schulden aus Unternehmungen im Fernhandel, wohl aber private Schulden. Für reine Handelsschulden tritt nötigenfalls der Palast in die Haftung ein. Er stundet sie gegebenenfalls, sodass Kaufleute sie zu einem späteren Zeitpunkt und im Rahmen einer nächsten Runde von Handelstätigkeiten begleichen können. Auslandsschulden, reine Silberschulden, sie bleiben bestehen.
Fette Jahre, magere Jahre
Stattdessen aber kommt es alle paar Jahr wieder dazu, sofern es die Umstände erfordern, dass persönliche Schulden, Konsumschulden, Agrarschulden, rundherum erlassen werden! Auch Bierschulden werden dann gestrichen. Denn für den Fall, dass solche angelaufen sein sollten, bedürfen sie keiner Rechtfertigung: Sie sind dann nicht mit dem Risiko aufgenommen worden, unternehmerische Erlöse zu erzielen, sondern schlicht um das Leben zu fristen. Solcherart Schulden können, nein sie ‚müssen’ erlassen werden, weil sie nur echter Not entsprungen sein können! Und weil sie auch nicht durch doppelte Anstrengungen aus der Welt zu schaffen sind.
Hierin besteht im alten Orient Einigkeit: Es wäre unbillig, Schuldner mit einer zusätzlichen Last zu beschweren! Schließlich sind für schicksalhafte äußere Umstände nicht die Einzelnen zur Verantwortung zu ziehen. Und bekanntermaßen fällt nicht jede Ernte gleich aus. Eben auch Babylonien erlebt Erdbeben und Epidemien, Fluten und Dürren, sodass Schieflagen entstehen und Schuldenlasten auflaufen können, die sich zu ‚verewigen’ drohen. Es sei denn, das Königtum tritt dazwischen und hebt die Schulden auf!
Der Königsweg ist das Königsrecht
An dieser Stelle erfüllt das Königtum eine unverzichtbare Aufgabe. Wenn die Königsdynastien ganze Serien von Schuldenerlassen ausrufen, dann ist ihnen die Notwendigkeit dazu jeweils vollkommen einsichtig. Die Zahlen der Palastbeamten, insoweit sie Notlagen der Bevölkerung widerspiegeln, liegen ihnen dann vor! Indem das Königtum darauf reagiert, übt es ein Vorrecht aus, das nur ihm allein zukommt. Das heißt, dort, wo die Bibel das Gebot zur Durchführung des Jubel- oder Jobeljahrs ‚fordert’ (Lev 25,8-55), wonach alle 50 Jahre ein vollständiger Schuldenerlass erfolgen solle, da rufen babylonische Königsdynastien den generellen Schuldenerlass längst wirklich ‚aus’. Und sorgen somit immer wieder neu für ‚saubere Tafeln’!
Bürgerinnen und Bürger – frei von Ketten und Schulden
Die Ausrufung von Erlassjahren (unter Namen wie amargi, andurârum, ni-gi-sâ, mīša-rum, šudutu, deror u.a.) ist folglich nicht zu verwechseln mit religiösem Wunschdenken. Erst nachträgliche theologische Interpretationen haben diese reale, historische Praxis zur bloßen Idee und Sozialutopie erklärt. Das Königtum dagegen folgt bei seinem ‚Resetting’ durchaus realpolitischen Erwägungen. Schließlich ist es im Verteidigungsfall auf ‚freie Bürger’ (aluwim) angewiesen, die nur bereitstehen, insofern ihnen auch eigenes Land gehört. Untertanen oder Sklaven würden sich nicht zu den Waffen rufen lassen. Denn mit dem Ernstfall hat Babylon zu rechnen. Überfälle durch Reiternomaden drohen ständig. Darüber hinaus hat das Königtum ein eigenes Interesse daran, das Entstehen einer Klasse neureicher ‚Rentiers’ zu verhindern, die ihm seine Position streitig machen könnte. Wenn es Schulden erlässt, ist es also nicht allein durch Nächstenliebe motiviert. Den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit vernachlässigt es dennoch nicht!
Wenn gesichert gesagt sein kann, dass Babylon Schuldenerlasse nicht als Lippenbekenntnis, sondern real und in Folge praktiziert hat – nicht zuletzt zu seinem Besten! –, so ist das vor allem Michael Hudson zu verdanken. Als ‚klassischer’ Ökonom, wie er sich bezeichnet (um nicht mit neoliberaler Ideologie in Verbindung gebracht zu werden), hat er dieser Thematik den nötigen wissenschaftlichen Unterbau verschafft. Auf Initiative Hudsons hin sind im Laufe der Jahre große internationale Symposien zusammengetreten. Erstmals hat so das verstreute Wissen zur mesopotamischen Epoche aus den Silos der verschiedenen Fachdisziplinen heraustreten und einander begegnen können. Fünf Sammelbände sind dazu erschienen. Zuletzt, 2018, hat Hudson unterm Titel „…and Forgive Them Their Debts“ eine Fleißarbeit nachgereicht, die die Gesamtserie der Schuldenerlasse des alten Orients durch Jahrhunderte hin lückenlos und beweiskräftig dokumentiert.
Noch hat Hudsons bahnbrechendes Werk den deutschen Sprachraum nicht erreicht. Man darf aber sicher sein: Es wird ankommen und erhebliche Verwerfungen nach sich ziehen müssen. Zu segensreich und über lange Zeit hin, hat die babylonische Langzeitökonomie gewirkt, als dass sie sich leichthin übergehen und als archaische Kuriosität abtun ließe. Viel eher bildet sie einen eigenständigen, beeindruckenden Orientierungsmaßstab von bleibender Gültigkeit!
Kein Vorbei am ‚Babylon-Block’
Obwohl gängige ökonomische Lehrbücher –wie etwa das meistverbreitete, der Klassiker des Nobelpreisträgers Paul Samuelson – den gesamten ‚Babylon-Block’ notorisch zu umgehen versuchen, darf man sicher sein: Nach dem erreichten Stand des Wissens zur mesopotamischen Epoche und spätestens nach Hudsons Publikation, wird solche Ignoranz nicht länger zu halten sein. Es bleibt als hartes Faktum festzuhalten: Mesopotamier konnten durch Gläubiger von ihrem bebauten Land niemals vertrieben werden! Weder konnten sie in Klassenabhängigkeit geraten, noch in jene lebenslange Lohn- oder Schuldknechtschaft, wie sie in der klassischen Antike anhebt und bald für den Normalfall gehalten werden wird. Die Schuldenerlasse haben einer solchen schlechten Normalität wirksam vorgebeugt. Konsequent haben sie das Entstehen einer Gläubigerklasse, einer Oligarchen-oder Rentiersklasse verhindert. Die gezielte Spekulation darauf, sich durch Pfändungen und Zwangsversteigerungen unverdienten Reichtum anzueignen, blieb chancenlos. Dagegen stand durchgehend Babylons Königtum mit seinen wiederholten Schuldenerlassen!
Dem neuzeitlichen Dogma ‚Schulden, gleich welcher Art, sind zu zahlen – immer und unter allen Umständen!’ steht mit diesen Königsdynastien und ihrer Praxis der Jubeljahre (daher ‘Jubiläen’!) demnach eine Jahrtausende währende Epoche gegenüber, die vom glatten Gegenteil des neuzeitlichen Schulden-Dogmas zeugt! Der erste öffentliche Auftritt des historischen Jesus übrigens, indem er das „Jahr des Herrn“ ausruft, und die Geldwechsler aus dem Tempel treibt, handelt eben davon (Lk. Kap. 4). Entgegen der theologischen Lehrmeinung zielt diese Aktion nicht auf ‚jenseitige’ Vorstellungen, sondern verweist lediglich auf ein sehr irdisches Best-Practice-Modell!
Am Ende des Bieres
Am Ende eines Bieres – keine Frage! –, steht gewöhnlich das ‚nächste’ Bier. Wie ja auch am Ende einer Diskussion die folgende meist nicht lange auf sich warten lässt. Und so schien auch die Frage ‚Was kam zuerst – das Brot oder das Bier?’ längst ihre gültige Antwort gefunden zu haben. Das ‚täglich Brot’ muss es ja doch wohl gewesen sein, wie sich allein schon an seiner zentralen Bedeutung für die Ernährung, die Brot heute einnimmt, ablesen lässt. So lautete zumindest die verbreitete Meinung – bis zu dem Tag, da auch diese hinfällig werden sollte. Denn diese Rangfolge hat einen heftigen Stoß erlitten. Im Jahr 2008 ist es Josef H. Reichholf, Deutschlands prominentester Biologe, der sich auf ungewöhnliches Terrain wagt, um an dieser These heftig zu rütteln. Zur Brotfrage – ähnlich wie Hudson in der Schuldenfrage – behauptet er schlicht das Umgekehrte!
Bier vor Brot
Die archäologischen Funde seither haben Reichholfs Argumentation immer nur bestätigt. Und die ist ziemlich unwiderleglich. Er hat schlicht ausgerechnet, wie viel Getreide den Menschen zu Beginn der Sesshaftwerdung nur zur Verfügung gestanden haben ‚kann’. Wobei von Zucht-Getreide zunächst ja keine Rede sein darf. Allenfalls von ‚Wildgräsern’ und deren winzigen Samenkörnern. Und diese spärlichen Körnchen, um die These kurz zu fassen, können nimmermehr als Ernährungsgrundlage ausgereicht haben! Es sei denn zum Bierbrauen, um hin und wieder eine gemeinsame Feier begehen zu können! Dafür schon! Reichholf dazu: “Brot konnte erst hergestellt werden, als man Getreide im Überschuss zu ernten imstande war. Das geschah nachweislich erst Jahrtausende nach Beginn der Nutzung von Wildgetreide.“11
In Jahreszahlen ausgedrückt, reicht die Nutzung von Gerste zum Bierbrauen 12.500 Jahre zurück, ihre Nutzung zum Brotbacken dagegen lediglich 6.500 Jahre. Dazwischen liegen folglich 6.000 Jahre, in denen allein der Konsum von Bier dominiert! Aller Anfang liegt demnach – nicht nur nach Gilgamesch, sondern auch nach Reichholf –, im Bier! Sogar doppelt erstaunlich ist die Tatsache, dass es die Mesopotamier zum Zeitpunkt, als schließlich wirklich genügend Zuchtgetreide zur Verfügung steht, dennoch vorziehen, lieber Bier zu brauen als Brot zu backen. Haben sie etwa mehr gewusst? Ist Bier vielleicht bekömmlicher als Brot? Nahrhafter? Gesünder? Blickt man auf die medizinische Ratgeberliteratur – mit Titeln wie „Dumm wie Brot“ – könnte man zumindest stutzig werden….
Brot in der Flasche
Möglicherweise kündigt sich eine Trendwende an. Barack Obama z.B. könnte einer ihrer Vorreiter heißen. Denn noch während der Zeit seiner US-Präsidentschaft kam er drauf, die Badewanne im Weißen Haus umzunutzen und darin eigenes Bier zu brauen. Er ist so nicht nur im Ansehen der Amerikaner gestiegen, sondern hat damit auch der weltweiten ‚Craft-Beer-Bewegung’ einen Anstoß gegeben. Mittlerweile schießen kleine Brauereien aus dem Boden. Kreative Biere aller Art werden entwickelt. Die Geschmacksvielfalt kehrt zurück. Und auch Altbackenes erhält seinen Wert zurück. Teile z.B. der 1,7 Mio Tonnen Backwaren – wie der WWF ausgerechnet hat –,12 die allein in Deutschland pro Jahr weggeworfen werden – könnten ‚wiederverwendet’ werden im Sinne der Nachhaltigkeit. Oder besser noch ‚upgecycelt’, sodass daraus – wie aus den babylonischen ‚Bierbroten’ – charaktervolle ‚Brotbiere’ entstehen, mit einer reichen Palette an Variationen.
B wie Babylon, Z wie Zukunft
Die Geschichte des Biers hat demnach noch lange nicht ihr Ende gefunden. Eher scheint dem Bier eine große Zukunft beschieden zu sein. Denn, was geschieht gewöhnlich am Ende des Bieres? Am Ende einer Bier-Epoche? Es beginnt eine neue Bierepoche! Eine ähnliche Umkehr könnte sich auch in der Ökonomie vollziehen. Hier florieren die Meinungsmoden nicht weniger und lösen einander in immer schnellerer Folge ab. Derzeit geraten sogar vermeintlich unumstößliche Dogmengebäude ins Wanken. Viel ist neuerdings die Rede von Kreislauf-, DeGrowth-, Postwachstums- oder ‚Donut’-Ökonomien. Babylons Erfolgsmodell verdient in diese Reihe aufgenommen zu werden. Es dürfte unumgänglich sein, die nächste ‚Große Erzählung’ mit einem ‚B’ wie ‚Babylon’ beginnen zu lassen!
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Literatur
- Berry, Wendell: A Timbered Choir. The Sabbath Poems 1979-1997. Michigan 1999.
- Bertman, Stephen: Babylon-Handbook to Life in Ancient Mesopotamia. New York 2003. (URL)
- Calasso, Roberto: Die Glut. München 2015. (URL)
- Calasso, Roberto: Der himmlische Jäger. Berlin 2020. (URL)
- Charpin, Dominique: Hammurabi of Babylon. London – New York 2003.
- Chesterton, Gilbert Keith: Autobiography. London 1936. (PDF)
- DeSalle, Rob; Tattersall, Ian: A Natural History of Beer. New Haven-London 2019. (URL)
- Davies, Glyn:- A History of Money. From Ancient Times to the Present Day. Cardiff 2002. (URL)
- Finley, Moses. The Ancient Economy (1973)2. Berkeley 1999. (URL)
- Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München 2013. (URL)
- Hartman, L. F.; Oppenheim, A. P.: On Beer and Brewing Techniques in Ancient Mesopotamia. Journal of the American Oriental Society, Supplement 10 (1950). (URL)
- Hirschfelder, Gunter; Trummer, Manuel: Bier – Eine Geschichte von der Steinzeit bis heute. Stuttgart 2016. (URL)
- Huber, Engelbert et.al.: Bier und Bierbereitung bei den Völkern der Urzeit . Veröffentlichungen der Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens (3 Bde). Berlin 1926-1928.
- Huber, Engelbert: Das Trankopfer im Kulte der Völker. Hannover-Kirchrode 1929.
- Hudson, Michael: …and Forgive Them Their Debts. Lending, Foreclosure and Redemption from Bronze Age Finance to the Jubilee Year. Dresden 2018. (URL)
- Hudson, Michael; Mieroop, Marc Van De (Eds.): Debt and Economic Renewal in the Ancient Near East. Bethesda, 2002. (URL)
- Hudson, Michael; Wunsch, Cornelia (Eds.): Creating Economic Order. Record-keeping, Standardization, and the Development of Accounting in the Ancient Near East. Bethesda 2004. (URL)
- Jastrow, Morris jr.: The Religion of Babylonia and Assyria. Boston 1898. Nachdruck: New York 2019. (URL)
- Katz, S. H.; Maytag, F.: “Brewing an Ancient Beer”. Archaeology 44 (7/8-1991), S. 24-33.
- Link, Barbara: Bier und Bierbrauen im Alten Ägypten. Von der Vorzeit bis zum Neuen Reich, Masterarbeit, München 2010. (PDF)
- Meußdoerffer, Franz; Zarnkow, Martin: Das Bier. Eine Geschichte von Hopfen und Malz. München 2016. (mit einer Bibliographie zum „Bier im Altertum“) (PDF)
- Michel, Rudolf H.; McGovern, Patrick. E.; Badler, Virginia R.: Chemical Evidence for Ancient Beer. Nature 360 (11-1992), S. 24.
- Nissen, Hans Jörg; Damerow, Peter; Englund, Robert K.: Archaic Bookkeeping. Early Writing and Techniques of Economic Administration in the Ancient Near East. Chicago-London 1993. Kapitel: “The Administrative Activities of Kushim”. (URL)
- Rätsch, Christian: Urbock. Bier jenseits von Hopfen und Malz. Luzern 1996.
- Reichholf, Josef H.: Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte. Frankfurt, M. 2008. (URL)
- Röllig, Wolfgang. Die Anfänge der Braukunst im Zweistromland. In: Bierwelt. Ausstellung 11. April bis 11. Oktober 1992. Linz 1992, S. 31-36. (PDF)
- Sallaberger, Walther: Bierbrauen in Versen. Eine neue Edition und Interpretation der Ninkasi-Hymne. In: Mittermayer, Catherine; Ecklin, Sabine: Altorientalische Studien zu Ehren von Pascal Attinger. (Orbis Biblicus et Orientalis, Band 256). Fribourg-Göttingen 2012, S. 291 – 328. (PDF)
- Sallaberger, Walther; Pruß, Alexander: Home and Work in Early Bronze Age Mesopotamia: “Ration Lists” and “Private Houses” at Tell Beydar/Nabada. (PDF)
- Samuelson, Paul A.: Volkswirtschaftslehre. Das internationale Standardwerk der Makro- und Mikroökonomie (1948). München 2017.
- Snell, Daniel C. (Ed.): A Companion to the Ancient Near East. Malden 2005. (URL)
- Stol, Marten: Women in the Ancient Near East. Boston-Berlin 2016. (PDF) CC BY-NC-ND
Anmerkungen:
- Rätsch (1996), S. 6
- Roberto Calasso – in „Die Glut“ (2015) oder „Der Himmlische Jäger” (2020) – handelt zwar nicht von Bier, doch der zentrale Brauch des „Trankopfers“ gilt ihm als gewichtiges Thema. Er handelt so gesehen doch wieder von Bier! Calasso darf als einzigartiger Kenner der Aryas gelten, von deren Kultur fast nur die oft rätselhaften ‚vedischen Schriften’ erhalten sind. Die aber entschlüsseln sich wie von selbst, treffen sie auf einen Interpreten wie Classo. Dem Trinkritual (agnihotra) kommt in den Veden eine Schlüsselrolle zu.
- Chesterton (1936), Chp. 16 The God with the Golden Key. (PDF)
- Berry (1999): 1994, III
- Chesterton, G.K.: „The Secret People“, Gedicht, entstanden im Jahr 1908. (URL)
- G. Walter Stoniers Satire findet sich in: G.K.’s Weekly, 10.04.1926. Zitiert ist weiter aus dem Brief an den Hörer G.G. Coulton vom 18.09.1935. Chesterton Antwortbriefe zu seiner BBC-Radio-Sendereihe der Jahre 1933 – 1936 sind durchzogen vom Leitthema ‚Bier’, vgl. Chesterton, G. K.: Radio Chesterton. Dai microfoni della BBC. (Hg.: Annalisa Teggi). Soveria Mannelli 2015. Chesterton schreibt hier, wie die Herausgeberin ihr Nachwort übertitelt, “im Namen des Bieres” an, “gegen die selige Ignoranz” derer, die sich der sanften, kapitalistischen “Sklaverei” ergeben.
- Michel et.al. (1992)
- Die entsprechenden Angaben versammelt Stol (2016)
- Jastrow 1898, S. 699 ff. (Sacrifices and Votive Offerings – S. 660 – 675.)
- Hochauflösende Abbildungen der Kushim-Tablets versammelt ein Gemeinschaftsprojekt der University of California, Los Angeles, der University of Oxford und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte: Cuneiform Digital Library Initiative, Berlin (CDLI).
- Reichholf, Interview mit der WELT (2008): Am Anfang war das Bier – und nicht der Hunger. (URL)
- WWF (Hg.): Unser täglich Brot. Von überschüssigen Brotkanten und wachsenden Brotbergen. Sabine Jäger, 10/2018. (PDF)
Links:
Eine Projektgruppe des Historischen Vereins Fürstenfeldbruck will es genau wissen und geht der Spur des historischen Biers auf sehr konkrete Weise nach. Sie pflegt unter “Steinzeitbier” eine eigene Website.
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